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Kriege lehnte er konsequent ab.

Von Herfried Munkler

Erasmus von Rotterdam (1465 oder 1466 bis 1536), der wohl bedeutendste der Humanisten, hat stets vermieden, in dem Konflikt zwischen Luther und dem Papst eindeutig Partei zu ergreifen. Er ging mit Rom, aber er legte gleichzeitig Wert darauf, von der Kurie nicht vereinnahmt zu werden. Darum hielt er seine Verbindungen zu den oberdeutschen Reformatoren Zwingli, Bucer, Capito und Oecolampad auch noch aufrecht, nachdem er sich von ihnen in zentralen Fragen der reformatorischen Theologie öffentlich distanziert hatte. Nur im Verhältnis zu Luther war nach dem Streit über die menschliche Willensfreiheit eine unüberbrückbare Kluft entstanden. Er sei ein Aal, hat Luther von Erasmus gesagt, "niemand kann ihn ergreifen denn Christus allein". Gerade diese Gratwanderung des Erasmus zwischen den konfessionellen Fronten hat das der Nachwelt überlieferte Bild des großen Philologen und Humanisten lange Zeit negativ geprägt. Keine der Parteien konnte und wollte ihn als einen der Ihren reklamieren. Für die einen galt er nur als Vorbereiter Luthers, der aber im entscheidenden Augenblick zu schwach gewesen sei, dem Reformator zu folgen, und für die anderen war er derjenige, dessen humanistisch-philologische Kritik der scholastischen Theologie Luthers Auftreten erst möglich gemacht und der danach Luther nicht eindeutig widersprochen habe. Erst die Relativierung der konfessionellen Gegensätze in unserem Jahrhundert hat den Blick freigegeben auf ein anderes Erasmusbild, auf einen Mann, der sich der Entscheidung zwischen Rom und Wittenberg verweigerte, weil er auf beiden Seiten Richtiges und Falsches miteinander verbunden glaubte und davon überzeugt war, dass eine weitere Zuspitzung der Gegensätze nur negative Folgen haben werden. Jonan Huizinga hat in seiner 1924 erschienenen Biographie des Erasmus diesen "einen Meister des Vorbehalts" genannt. Was bei Huizinga noch in der Schwebe blieb zwischen Kritik und Anerkennung des Erasmus ist von Cornelis Augustijn in seinem jetzt erschienenen Erasmus-Buch zugunsten der Anerkennung entschieden worden: Erasmus tritt uns hier gegenüber als entschiedener Gegner jedweder Veräußerlichung des Religiösen, der aber trotz aller Spiritualisierung der Religion die Kirche als Institution nicht zerstört wissen wollte, als ein Individualist, der sich der gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen dieses Individualismus sehr wohl bewusst war. Erasmus’ Reserviertheit gegenüber der Reformation erwuchs nicht zuletzt daraus, dass diese eine Dynamik der Entscheidung, einen Zwang zum Bekenntnis in Gang setzte, in deren Folge die Voraussetzungen des geistig liberalen Klimas zerstört würden, auf die Intellektuelle vom Schlage des Erasmus existentiell angewiesen waren. Augustijn verschweigt nicht, dass diese Einstellung mit einer gewissen Oberflächlichkeit in religiösen Dingen einherging – jedenfalls aus Luthers intransigenter Perspektive –, aber er wendet diese Kritik ins Positive, indem er herausstellt, dass dies die einzige Methode war, den Weg in den Konfessionskrieg zu vermeiden. Der 1555 in Augsburg erzielte Kompromiss war eine letzte Frucht erasmisch-irenischen Geistes. Was die reformatorische ebenso wie die gegenreformatorische Historiographie Erasmus als Unentschiedenheit, Schwäche und Feigheit ausgelegt hat, wird von dem Amsterdamer Kirchenhistoriker Augustijn als Fähigkeit zu Ausgleich und Kompromiss begriffen. Doch nicht erst im Konflikt zwischen Luther und dem Papst hat Erasmus einen Weg des Ausgleichs und der Vermittlung favorisiert. Lange vor Luthers Auftreten bereits hat er in den Auseinandersetzungen zwischen Theologen und Humanisten auf eine Verbindung beider Seiten miteinander hingearbeitet. Christentum und antike Kultur waren ihm keine Gegensätze, sondern weithin gleichgewichtige Beiträge zur Formierung der europäischen Kultur. Frömmigkeit und Bildung, Gebet und Erkenntnis wollte Erasmus nicht als Gegensatz, sondern als Synthese verstanden wissen. Augustinus und vor allem Hieronymus waren darum seine Vorbilder. Diese Verbindung, so Erasmus in einem Brief an Papst Leo X., werde ein Goldenes Zeitalter heraufführen. Erasmus schrieb dies kurz vor der Entstehung von Luthers Ablass-Thesen und Erasmus’ Distanz gegenüber dem Wittenberger Reformator resultiert schon daraus, dass dieser an die Stelle der Synthese die Polarisierung setzte, an die Stelle des Ausgleichs den Gegensatz. Statt eines Goldenen Zeitalters zog eines der konfessionellen Konflikte herauf, statt der Toleranz trat die Unduldsamkeit auf die politische Tagesordnung. Auch die philologische Methode der Bibelauslegung, die von Erasmus wenn nicht begründet, so doch verbreitet worden ist, hat Erasmus nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung und Korrektiv der vorherrschenden allegorischen Methode verstanden. Echte Theologie, so seine Überzeugung, habe nicht nur von scholastischen Synthesen und Distinktionen auszugehen, sondern auch von der Bibel, die als Text mit philologischen Methoden zu behandeln sei – und das schloss bei Erasmus auch die Überprüfung der Vulgata-Übersetzung mit ein. Darin freilich lag der Streitpunkt, denn nach allgemein verbreiteter Auffassung hatte der Hl. Geist selbst bei dieser Übersetzung die Feder geführt. Hier war kein Kompromiss möglich, und dementsprechend entschlossen trat Erasmus auf: Die Philologie durfte und musste die Texte überprüfen, reinigen und wiederherstellen, von denen die Theologie ausging. In der Substanz des Humanismus blieb Erasmus hart. Und ebenso entschlossen und kompromisslos war er auch in seiner Kritik an der Verweltlichung der Kirche oder an bestimmten Formen des mönchischen Lebens, dem er vorhielt, Dummheit und Frömmigkeit miteinander zu verwechseln. Augustijn hat diese Aspekte des erasmischen Werkes sehr klar herausgearbeitet. Um so bedauerlicher ist darum, dass er dem genuin politischen Aspekt im Denken des Erasmus eine vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit gewidmet hat: dem bedingungslosen Pazifismus etwa, der in der "Querela Paris" seinen klarsten Ausdruck gefunden hat. Erasmus lebte – in der zweiten Hälfte seines Lebens – nicht nur unter dem Eindruck der Glaubensspaltung, sondern auch der Formierung der europäischen Staaten, die nun, seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts, gegeneinander zum Kampf um die europäische Hegemonie antraten. Er hat gewarnt und zum Frieden aufgerufen, sicherlich nicht allein aus humanitären Gründen. Dass der Krieg der Feind der Kultur war, war ein humanistisches Credo, denn dann flossen die Gelder nicht mehr in die Künste und Wissenschaften, sondern in die Kriegskassen. Das hat Erasmus den Blick geschärft für alle Formen der Kriegsrechtfertigung: Selbst im Krieg gegen die Türken sah er eine nur allzu durchsichtige Form imperialer Politik ... Erasmus’ Friedensappelle in genuin politischen Fragen sind ebenso folgenlos geblieben wie die im konfessionellen Konflikt. Seine Wirkung blieb weiterhin auf den engeren Bereich der Geistesgeschichte beschränkt. Als intellektuelle Gründergestalt war Erasmus überall in Europa rezipierbar, und alle reklamierten ihn für sich. In seiner Kritik an der Machtpolitik und seiner Friedenssehnsucht wäre dies schwerlich möglich gewesen. So blieb das Bild des Erasmus über Jahrhunderte um seine politische Dimension verkürzt. Es ist darum mehr als bedauerlich, dass Augustijn bei den zahllosen Korrekturen, die er am herkömmlichen Erasmusbild vorgenommen hat, die Verbindung des Politischen mit dem Geistigen gerade bei Erasmus nicht herausgestellt hat – auch wenn diese in mancher Hinsicht naiv gewesen sein mag.