Ich bin ja so allein

Vor 200 Jahren wurde der Schriftsteller und Selbstdenker Søren Kierkegaard geboren. Er ist als Selbstforscher und Existenzergründer unser Zeitgenosse geblieben. Ein Geburtstagsgruß. Von Dirk Pilz

Vor 200 Jahren wurde der Schriftsteller und Selbstdenker Søren Kierkegaard geboren. Er ist als Selbstforscher und Existenzergründer unser Zeitgenosse geblieben. Ein Geburtstagsgruß.

Der Friedhof, auf dem Søren Aabye Kierkegaard seit 1855 begraben liegt, der Assistens Kirkegård, liegt im schönen Kopenhagener Stadtteil Nørrebro. Umschlossen von dicht befahrenen Straßen findet man dort schöne schattige Plätzchen zum Ruhen. Gern gehen deshalb in den Sommermonaten die Kopenhagener zum Picknick auf den Friedhof, breiten Speisen aus und trinken Bier, in heißen Tagen wird sich der Oberbekleidung entledigt.

Die Emanzipation hat in Dänemark beachtliche Erfolge gefeiert – ein Unterschied in den Entkleidungspraktiken zwischen Männern und Frauen existiert hier nicht. Auch nicht auf dem Friedhof. Das mag den Erstbesucher der Grabstätte Kierkegaards erstaunen (mich zumindest erstaunte es, als ich vor Jahren einige Zeit direkt neben dem Assistens Kirkegård wohnte), Kierkegaard selbst hätte diese Praxis der Selbst-Ausstellung und Ich-Entblößung aber womöglich gefallen.

Längere Zeit trug er sich mit dem Gedanken, auf seinen Grabstein nichts anderes als "hen enkelte" schreiben zu lassen, "jener Einzelne". Das war Kierkegaards Lebensthema: der Einzelne vor seinem (nackten) Leben und im Wissen um die eigene Sterblichkeit, vor allem aber der Einzelne vor Gott und seinem Glauben oder Nichtglauben.

Das hat zunächst biographische Gründe. Der Vater, in Kierkegaards Schriften dauerpräsent, ordnete sein Glaubens- und Gefühlsleben einem strengen Pietismus unter, einem Gottes- und Menschenverständnis, das in selbstquälerische Selbstmoralisierung sein Heil suchte. Nie sind Leben und Denken zu trennen, natürlich nicht, bei Kierkegaard jedoch in besonderer Weise nicht, hervorragend nachzulesen in der schon etwas älteren, aber noch immer lohnenden und jetzt wieder aufgelegten Biographie des Malers und Musikers Johannes Hohlenberg.

Unterscheidung zwischen Leid und Leiden

Diese frühkindliche Vater-Prägung wurde ihm zum Motor seines Schreibens, zum Unruheherd seines Denkens. Er wurde nie fertig damit, das erfahrene Leiden, die Erfahrungsformen seiner Kindheit auszudeuten.

Das Dänische ist hier genauer als das Deutsche, indem es zwischen Leid und Leiden genau zu unterscheiden weiß, denn das dänische lidelse (Leiden) ist von lide her bestimmt, einem Verb, und hebt sich von lede (Leid) ab, das eher einen objektiven Umstand meint.

Kierkegaard geht es stets um lidelse, um das subjektive Erleben des Leidens, das keineswegs nur dunkel gefärbt (er konnte sehr witzig sein!), immer aber von Widersprüchen durchzuckt ist, die niemand sonst so scharf gestellt, so auf die Spitze getrieben hat wie Kierkegaard. In einer überaus präzisen Studie hat die Berliner Psychologin und Philosophin Almut Furchert jüngst dieses Generalthema Kierkegaards als einen Versuch geschildert, dieses Leiden als "Dialektik der Verinnerlichung" zu fassen.

In schneller Folge bringt Kierkegaard seit 1843, seit seinem berühmten Erstlingswerk "Entweder ? Oder" in nur zwölf Jahren seine Bücher heraus, auf eigene Kosten (der Vater war mit Wollhandel reich geworden, er hinterließ dem Sohn ein stattliches Vermögen), und immer in gewagter, schwebender Form. Er verwendet Pseudonyme, experimentiert mit Textformen (Briefe, fiktive Tagebücher, Predigten) und trifft dabei für die Moderne wegweisende Unterscheidungen zwischen Furcht und Angst (im "Buch über Adler"), zwischen Selbst und Seele (in "Philosophische Brocken"), Glaube und Gefühl (in "Furcht und Zittern"). Sein Schreiben ist dabei immer ein Reden und Denken aus einer eigenen Existenz heraus, die (in seiner Wahrnehmung) an Kompliziertheit nicht zu übertreffen war. Alles, was ein Leben bestimmt, erfährt man allein. Man liebt allein, man glaubt allein, man zweifelt, man hofft allein. Das ist Kierkegaards Flucht- und Hoffnungspunkt, gerade im Hinblick auf die Ansprüche einer christlichen Existenz, und darin liegt ein Paradox verborgen, das er bis auf seinen existenziellen Kern entkleidet hat. Er geriet so in scharfe Gegensätze zur Staatskirche ("Fliehe die Pfarrer, diese Schändlichen, deren Gewerbe es ist, dich daran zu hindern, dass Du auch nur aufmerksam werdest auf das, was wahres Christentum ist.") und zu seiner Zeit, die er von lauter spaßsüchtigen "Alltagsheringen" bevölkert sah. Sein Ziel war durchaus missionarischer Natur: Er wollte die Menschen "hinterrücks verwunden", damit aus Mitläufern Individuen werden; er wollte – so schreibt er in seiner Schrift "Gesichtspunkte für meine Wirksamkeit als Schriftsteller" – den Leser "in die Wahrheit hinein betrügen", ihn zur Verbindlichkeit der eigenen Existenz gegenüber verführen. Das "Tagebuch eines Verführers" ist nicht zufällig sein berühmtester Text. Es gibt keinen Glauben, kein Wissen, keine Erkenntnis, die sich als gesichert verbuchen ließe. Alles bleibt an die Existenz, das Wagnis des Lebens gebunden: Das ist sein Verführungsziel. Und das ist, was diesen am 5. Mai vor 200 Jahren geborenen Selbstdenker zu unserem Zeitgenosse macht.

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