Rekordtemperaturen in Sibirien bereiten Forschern zunehmend Sorgen. Denn Waldbrände, leckende Ölpipelines sowie der tauende Permafrostboden sind eine Gefahr für die Umwelt und befeuern den Klimawandel. Bahnt sich hier eine Naturkatastrophe an?
38 Grad Celsius zeigt das Thermometer am 20. Juni. Allerdings nicht etwa in Spanien oder der Sahara, sondern im sibirischen Werchojansk. Diese dort gemessene Temperatur ist der höchste jemals registrierte Wert nördlich des Polarkreises. Eigentlich ist Werchojansk bekannt als Kältepol aller bewohnten Gebiete der Erde.
Mika Rantanen, Experte für Klimawandel am Finnischen Meteorologischen Institut, kommentierte die sich überschlagenden Temperaturrekorde auf Twitter: "Einfach nur verrückt!" Die Hitze in Sibirien könnte gigantische Naturkatastrophen nach sich ziehen. Forscher schlagen bereits Alarm.
"Werchojansk ist nur die Spitze des Eisbergs", sagt Dr. Anna Irrgang. Die Geomorphologin erforscht die Permafrost-Erosion in der arktischen Zone und warnt: "Der Dauerfrostboden, auch Permafrost genannt, ist sehr anfällig für hohe Temperaturen und taut im Sommer im oberen Bereich schnell auf. Dadurch werden große Mengen an Gasen freigesetzt, die dazu beitragen können, dass sich unser Klima erwärmt. Solche Hitzewellen sind somit Katalysatoren für den Klimawandel."
Dabei seien extreme Wetterereignisse in dieser Region nichts Ungewöhnliches, betont die Forscherin. Neu sei jedoch, mit welcher Häufigkeit diese auftreten. Auch Mika Rantanen warnt, dass die Erwärmung in der Arktis drei- bis viermal schneller verläuft als der weltweite Durchschnitt.
Eine Folge der Hitzewelle sind ausgedehnte Waldbrände. In Sibirien brennt derzeit eine Fläche von etwa einer Million Hektar – mehr als die Größe Zyperns. Die Brände zu löschen, ist unmöglich. "Was das für den darunterliegenden gefrorenen Boden bedeutet, kann man sich ja denken", sagt Anna Irrgang - "er taut in Rekordtempo!"
Auch die Ölkatastrophe in Norilsk Ende Mai 2020 lässt sich auf den Klimawandel zurückführen. Dabei waren die Stützen eines Dieseltanks im tauenden Permafrostboden versunken. 21.000 Tonnen Diesel ergossen sich in den Fluss Ambarnaja und verursachten die laut Greenpeace größte Naturkatastrophe Russlands.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es weitere Unglücke gibt, ist hoch. Denn in Sibirien verlaufen Pipelines zumeist überirdisch – eben wegen des Permafrostbodens. Sinken die Stützen ein, drohen die Rohre zu brechen.
Doch wie kommt es eigentlich zu der ungewöhnlichen Hitzewelle in Sibirien? "Der Grund für die extrem warmen Temperaturen ist ein sogenannter 'Hitzedom'", sagt Anna Irrgang. "Das ist ein stabiles, also zeitlich langanhaltendes Hochdruckgebiet. Es verhindert, dass kühle und feuchte Luft durch Tiefdruckgebiete in die Region kommen."
Die Folgen sind so vielfältig wie katastrophal. "Es gibt kaum einen Bereich, auf den sich die langanhaltenden, ungewöhnlich hohen Temperaturen nicht auswirken", sagt die Expertin. "Auf die Tier- und Pflanzenwelt, auf die Schneeschmelze, auf das Meereis, auf den Menschen."
Und mit der Naturkatastrophe in Sibirien verbindet sich ein weiteres Horrorszenario. Forscher vermuten, dass in den Böden Viren aus längst vergangenen Zeiten wie in einer gigantischen Tiefkühltruhe eingefroren sind. Lauern dort die Erreger für die nächste Pandemie?
Auch wenn uns das erspart bleibt, wird der Rekordsommer in Sibirien Langzeitauswirkungen auf das Weltklima haben, wie Anna Irrgang betont. Denn wenn der Permafrostboden auftaut, bilden sich vermehrt Treibhausgase, wie Kohlenstoffdioxid und das noch wesentlich stärkere Methan - ein Turbo für den Klimawandel.
"Das ist die Sache mit dem Klima – es hängt alles miteinander zusammen", sagt die Forscherin. "Auch wenn die Arktis für uns schier unendlich weit weg scheint, betrifft uns die dramatische Erwärmung ganz direkt."
Was kann man also tun, um weitere Naturkatastrophen wie in Sibirien abzuwenden? "Die Antwort ist simpel und längst bekannt. Wir müssen alle weniger Treibhausgase ausstoßen. In unserem Alltag, durch unseren Konsum, in unserem Urlaub und durch unsere Fortbewegung", sagt Anna Irrgang.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Warum schaffen wir es dennoch nicht, unseren Lebensstil zu ändern? "Mit den bereits heute sichtbaren Folgen der Klimaerwärmung in der Arktis werden wir kaum konfrontiert", sagt Irrgang. "Deswegen neigen wir dazu, anzunehmen, dass unser tägliches Handeln keine Auswirkungen auf das Klima hat."
Doch der Permafrostboden lässt sich nicht wieder einfrieren. Entwichene Gase lassen sich nicht zurückholen. "Darum ist es umso wichtiger, dass es nicht immer so weitergeht", betont Irrgang.
Über die Expertin: Dr. Anna M. Irrgang ist Coastal Geomorphologist am Alfred-Wegener-Institut Potsdam.