Paulus und Luther
Es steht wohl außer Frage, dass Luther die Briefe des Paulus als eine vollkommene Entfaltung des Evangeliums von Jesus Christus angesehen hat, wobei ihm selbstverständlich auch die unter dem Namen des Paulus geschriebenen Briefe des Neuen Testamentes als echte Paulusbriefe galten. Luther war zeit seines Lebens der Überzeugung, dass er sich in seiner Theologie als ein getreuer Schüler des Paulus ausgewiesen hatte. Es ist sicher kein Zufall, dass sich die Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften in ihren grundsätzlichen Aussagen in der Regel auf paulinische bzw. deuteropaulinische Zitate stützt. Sören Kierkegaard hat diese enge Bindung der lutherischen Bekenntnisschriften an den Paulinismus für verhängnisvoll gehalten. Kurz vor seinem Tode schrieb er in seiner letzten nicht mehr veröffentlichten Flugschrift "Der Augenblick Nr. 10": "... der Apostel (sc Paulus) ist nur ein Mensch. Und meine Aufgabe verlangt, dass sie bis zum Äußersten verfolgt werde; findet sich in der Verkündigung des Apostels auch nur das geringste, was ein Verhältnis zu der im Laufe der Jahrhunderte entstandenen alles wahre Christentum verzehrenden Sophistik haben könnte: So muss ich Lärm schlagen, damit sich die Sophisten nicht ohne weiteres auf den Apostel berufen. 2.) Ist es von großer Wichtigkeit, besonders für den Protestantismus, dass der ungeheuren Verwirrung abgeholfen werde, die Luther angerichtet hat, indem er das Verhältnis umgedreht und im Grunde Christus durch Paulus, den Meister durch den Jünger kritisiert hat..." Luther hat sich offenbar in einer Weise als einen Geistesverwandten des Paulus betrachtet, die an das Bewusstsein, selber ein neuerstandener Paulus zu sein, zu grenzen scheint. Gar zu auffällig schien sich sein persönliches Schicksal in seiner religiösen Entwicklung in dem Selbstzeugnis des Paulus zu spiegeln. So meinte er, in den Anfechtungen des Paulus, wie er sie mit dem Bilde eines Pfahles im Fleisch im 2. Korintherbrief beschreibt, seine eigenen geistlichen Anfechtungen wiederzuerkennen. Wenn sich Paulus im 7. Kapitel des Römerbriefes als einen unter die Sünde verkauften Menschen schildert, so entsprach das seinen Erfahrungen mit sich selbst. Für ihn konnte es, genauso wie für Paulus, nur einen Weg der Rettung geben, nämlich den der Rechtfertigung des hoffnungslos der Sünde verfallenen Menschen durch den Gnadenspruch Gottes. Es spricht einiges dafür, dass sich Luther nicht so sehr an das Wort des Paulus gebunden, als sich vielmehr durch Paulus bestätigt fühlte. Als er gegen den Willen seines Kurfürsten die Wartburg verließ, kann er auf der Reise nach Wittenberg seinem fürstlichen Herrn sehr deutlich zu verstehen geben, mit wem man es in seiner Person hinfort zu tun haben wird. "Euer kurfürstliche Gnaden", so schreibt er, "weiß, oder weiß sie es nicht, so lass sie es hiermit kund sein, dass ich das Evangelium nicht von Menschen, sondern allein vom Himmel, durch unseren Herrn Jesum Christum habe ... " Wenn Luther es wagt, das bekannte Pauluswort aus dem Galaterbrief (Galater 1, 11 f.: Ich tue euch hiermit kund, liebe Brüder, dass das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht menschlich ist. Denn ich habe es von keinem Menschen empfangen noch gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi) auch für sich in Anspruch zu nehmen, dann bringt er damit sehr deutlich zum Ausdruck, dass er sich ebenbürtig an die Seite des Paulus gestellt weiß. Die gleichen hohen Offenbarungen, deren Paulus sich rühmte, wurden ihm durch Christus in gleicher Weise zuteil. Diese Selbsteinschätzung seiner Person, die ihm zum wenigsten in der Blütezeit der Reformation möglich war, hat Luther dazu gebracht, sich mit Paulus weitgehend zu identifizieren. So kann er in einer nicht veröffentlichten Schrift "Wider...den Ratschlag...der mainzischen Pfafferei" vom Jahre 1526 darauf hinweisen, dass er von Gott verordnet sei, "jedermans Diener zu sein, so viel mir möglich ist, dass ich lehren, unterrichten, warnen und vermahnen soll, was nützlich und seliglich ist, dass, wenn ich mich rühmen wollte, möchte ich mich in Gott noch wohl der Apostel und Evangelisten in deutschen Landen einen rühmen..." Kurz zuvor bezeichnet er sich als einen solchen Menschen, "der bisher immer dem Tod zugeurteilt und allein durch Gottes Gewalt wunderbarlich im Leben erhalten werde". Man hat den Eindruck, dass hinter diesen Worten der Hymnus steht, mit dem Paulus im 6. Kapitel des 2. Korintherbriefes sein apostolisches Wirken dargestellt hat. Im Jahre 1522, also in einer für die Sache der Reformation noch verhältnismäßig ungetrübten Zeit, hat er dann an die Gemeinde in Erfurt einen Brief geschrieben, der nach Form und Inhalt als Kopie eines Paulusbriefes angesehen werden muss: "Martinus Luther, Ecclesiastes zu Wittenberg, allen Christen zu Erfurt, sampt den Predigern und Dienern, Gnad und Fried in Christo unserm Herrn. Gott sei gelobt und gebenedeiet, der nach abgrundlichem Reichtum seiner Barmherzigkeit zu diesen Zeiten wieder aufgerichtet sein heiliges Evangelium von seinem Sohn, unserem Herrn Jesu Christo ... Darum, so ich erfahren habe, dass auch bei euch, lieben Brüder, das teure Licht der Gnaden aufgangen ist, bin ich froh und bitte denselben Vater aler Barmherzigkeit, der solchs bei euch angefangen hat, wollt euch weiter samt uns begaben mit allerlei Fülle der Weisheit und Erkenntnis ... " Auch am Schluss des Briefes ist die Nachahmung paulinischer Schreibweise unverkennbar: "... Aber unser Herr Christus stärk euch sampt uns in aller Fülle seiner Selbsterkenntnis zu Ehren seinem und unserem Vater, der gebenedeiet sei in Ewigkeit, Amen. Grüßet Johannem Lange, Georgium Forchheim, ... samt allen Eueren. Es grüßet euch Philippus und Jonas, und alle die Unseren. Gottes Gnade sei mit euch allen, Amen. Wittenberge, am zehenten Tag des Heumonds, Anno 1522." Diese Selbsteinschätzung, in der er sich der apostolischen Würde zum wenigsten nahe glaubte, kann allerdings für seine theologische Haltung nicht als typisch angesehen werden. Die Verbindlichkeit des biblischen Wortes, in dem er den Briefen des Paulus den höchsten Rang einräumte, hat er nie in Frage gestellt. Aber durch ihn war ja das Evangelium wieder zu neuem Leben erweckt. Als unmittelbarer Erbe paulinischer Verkündigung glaubte er, auch die hohen Erwartungen für sich und seine Zeit in Anspruch nehmen zu können, mit denen schon Paulus das nahe Ende der Weltzeit und das Kommen des Reiches Gottes vorausgesagt hatte. Er war fest davon überzeugt, dass seiner Person in dem endzeitlichen Geschehen eine entscheidende Bedeutung zukäme. In einer Auslegung der beiden letzten Kapitel des Buches Daniel behauptet er 1530, dass Johannes Huß dem endchristlichen Papsttum den ersten harten Stoß gegeben habe. Der Antichrist wurde damals schon schwer angeschlagen, aber noch nicht gestürzt, "bis dass ihn zu dieser Zeit das Geschrei erschreckt, deß Johannes Huß (Anm.: Luther bezeichnet Huß im Vorhergehenden wiederholt als Sankt Johannes Huß) ein Vorläufer gewest ist, wie er ihnen verkündigt hat im Geist, da er sprach: ,über hundert Jahre sollt ihr Gott und mir antworten. Item: sie werden eine Gans braten (Anm.: Huß heißt auf deutsch Gans), es wird aber ein Schwan nach mir kommen, den werden sie nicht braten.' Und also ist geschehen: er ist verbrannt anno 1416, so gieng dieser itzige Hader an mit dem Ablass anno 1517".. Diese Auslegung einer Danielweissagung, die sich auf eine fragwürdige Hußlegende stützte, zeigt, welch eine große Bedeutung er seiner Person in dem zu erwartenden endzeitlichen Geschehen beimaß. Es wird begreiflich, dass er sich auf der Höhe seines Sendungsbewusstseins als einen zweiten Paulus empfand. So, wie in ihm die paulinische Erwartung der letzten Tage wieder zu kräftigem Leben erwacht war, so würde auch durch ihn in der Vernichtung des Papsttums das Kommen des Gottesreiches in einer neuen Welt seinen Anfang nehmen. Dieser Glaube war eine tragende Kraft im Leben Martin Luthers, der infolge seines illusionären Charakters dazu beitrug, dass ein auf Luther sich berufender Glaube im Fortbestand der geschichtlichen Zeit in zunehmendem Maße an Kraft verlieren musste. Mit Ausnahme der lutherischen hat sich keine Konfession, die sich in dem durch Luther ausgelösten Zerfall der römischen Kirche bilden konnte, nach dem Namen ihres Gründers genannt. Die Bezeichnung "lutherisch" war ursprünglich von den Gegnern Luthers geprägt und hatte hämischen Klang. Luther bekennt daher auch schon im Jahre 1524 in einem Trostbrief an eine angefochtene Gemeinde, er habe es nicht gern, "dass man die Lehre und Leute lütherisch nennet, und muss von ihnen leiden, dass sie Gottes Wort mit meinem Namen schänden..." Im gleichen Atemzug aber macht er dann den Schandnamen zu einem Ehrennamen, indem er fortfährt: "so sollen sie doch den Lüther, die lutherische Lehre und Leut lassen bleiben und zu Ehren kommen." Es mag vielleicht nicht in seinem Sinne gewesen sein, dass sich die auf ihn berufende Konfession später dann evangelisch-lutherische Kirche nannte. Aber wiederholt fordert er die evangelischen Christen dazu auf, sich als lutherisch zu bekennen, da allein seine Lehre die vollkommene biblische Wahrheit enthält. Nach einer Tischredenaufzeichnung hat er im Jahre 1538 einmal gesagt: "Unsere Kirche ist von Gottes Gnaden der Aposteln Kirche am nahesten und ähnlichsten, denn wir haben die reine Lehre, den Katechismus, die Sakramente recht, wie es Christus gelehrt und eingesetzt hat ... Bleibt und gehet Gottes Wort rein, welchs allein die Kirche macht, also stehet es alles wohl und ist recht." Es lag nahe, dass Luthers Lehre innerhalb der von ihm gegründeten Kirche einen nahezu apostolischen Rang bekam. Eine evangelische Theologie lutherischer Prägung musste sich daher in den Kernpunkten ihrer Dogmatik auf paulinische Glaubensaussagen berufen, so wie sie durch Luther der Christenheit nach evangelischer Auffassung als höchste Offenbarung göttlichen Willens neu geschenkt worden waren. Dabei schien es selbstverständlich zu sein, dass Paulus und Luther in ihren Glaubensüberzeugungen und somit auch in ihrer Lehre völlig übereinstimmten. Diese theologische Position ist schon lange unhaltbar geworden. Schon W. Heitmüller hat anlässlich einer Reformationsfeier in Marburg im Jahre 1917 in Marburg erklärt, dass es sich vor der geschichtlichen Forschung nicht halten ließe, Luthers Christentum als eine Erneuerung des Urchristentums, insbesondere des Paulinismus anzusehen. Althaus nimmt ein Ergebnis der religionsgeschichtlichen Forschung auf, wenn er feststellt, dass Paulus und Luther von der Möglichkeit einer Heiligung des Menschen innerhalb des Christenstandes sehr verschiedene Vorstellungen hatten: "Paulus kennt eine sündlose Christenheit. Man denke an die offenkundigen Sünden, die er in den Briefen nach Korinth zur Sprache bringt. - Aber sie brauchten nach dem Urteil des Apostels nicht vorzukommen. - Paulus stellt seinen Gemeinden den eigenen Wandel ohne Einschränkung als Vorbild hin. Er empfiehlt die imitatio Pauli." "Auch Luther lehrt, dass die Gnade durch den Glauben den Menschen von Grund auf wandelt. ... Aber der Kampf und das Werden kommt in diesem Leben nicht zu Ende, die völlige Freiheit von der Sünde wird nicht erreicht. ... ständig ist die angeborene "Begierde" lebendig, die Eigensucht, der Hochmut, das Misstrauen gegen Gott, Ungeduld gegen Gott und Menschen. Daher sind auch die Christen noch Sünder, die ständig sündigen." Die Folgerungen, die Althaus aus dem vorliegenden Forschungsergebnis zieht, sind wenig überzeugend. Er versucht, die sich widersprechenden Auffassungen bei Paulus und Luther von der Heiligungsmöglichkeit des menschlichen Lebens mit einer fortschreitenden Differenzierung des seelischen Bereiches innerhalb der christlichen Kirche zu erklären. Er bezieht sich dabei auf eine Arbeit Karl Holls, der eine "Verfeinerung des Persönlichkeitsgefühls" im Laufe der Geschichte glaubte feststellen zu können. "Der Blick in die Seele", so meint Althaus, "ist eindringlicher, die Reflexion schärfer, und damit die Beurteilung strenger geworden. Luthers Sündenbegriff reicht bis in die Tiefe der unwillkürlichen Regungen." Danach konnte also Paulus noch im Bewusstsein der Reinheit und Lauterkeit des eigenen Handeins leben und sich auf die Veruteilung von Tatsünden beschränken, weil er als Kind seiner Zeit notwendigerweise noch einer primitiveren Stufe der seelischen Entwicklung verhaftet war. Diese Erklärungsversuche sind unhaltbar. Schon im Alten Testament, vornehmlich bei den großen Propheten und in den Psalmen finden sich Zeugnisse eines Persönlichkeitsgefühls, das sich in Feinheit und Reflexionsvermögen nicht von dem eines Martin Luther unterscheidet. Wenn es am Ende des 139. Psalmes heißt: "Erforsche mich Gott und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ich's meine. Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege", dann ist das ein Zeichen dafür, dass schon der fromme Jude feine seelische Regungen als eine verantwortliche Lebensäußerung zu werten wusste. Auch nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes hat der Mensch diese Stufe seelischer Entwicklung schon erreicht. So wird z. B. in der Verkündigung der Bergpredigt die affektive Regung des Zorns mit dem Tatverbrechen des Mordes auf eine Stufe gestellt. Beide, der Zürnende, der seinem Gegner den Tod wünscht, und der Totschläger sind in gleicher Weise des Gerichtes schuldig (Matthäus 5, 21f.). Wenn Paulus von sich sagen konnte, dass er sich keiner Sünde bewusst sei (1. Korinther 4, 4), ihm also in seiner christlichen Existenz anscheinend eine Befreiung vom Sündenbewusstsein geschenkt wurde, dann wird man diese merkwürdige Ausnahmestellung, die ihn menschlicher Wesensart enthebt, psychologisch zu überprüfen haben. Von der Psychoanalyse her kann behauptet werden, dass das Bewusstsein der Sündlosigkeit bei Paulus weder auf eine vollkommene Heiligung noch auf einen Mangel an Reflexionsvermögen zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf eine intensive Verdrängung von Schuldgefühlen hinweist, wobei der Verdrängungsprozess dann allerdings zu einer Einschränkung des Reflexionsvermögens führen kann. Solange die theologische Deutung sich auf eine dem logischen Denken verhaftete Bewusstseinsdeutung beschränkt, wird sich niemals klären lassen, ob das umstrittene Bekenntnis des Paulus im 7. Kapitel des Römerbriefes (Römer 7, 14ff.) Gegenwartsbedeutung hat, oder ob es nur überwundene Nöte aus der vorchristlichen Zeit schildern möchte. Beide Lösungen sind möglich und haben gute Gründe für sich, so dass diese Frage niemals eine zweifelsfreie Beantwortung finden konnte. Die Sicherheit, mit der Paulus behaupten kann, er könne in Christus ein heiligmäßiges Leben mit dem Ziel der Vollkommenheit führen, muss notwendig zum Schluss führen, dass Paulus den Menschen, der unter die Sünde verkauft ist und das Gute will, aber das Böse tut, nunmehr als Christ hinter sich gelassen hat. Eine Theologie aber, die an der klassischen Lösung der Reformatoren festhalten möchte, kann sich auf den Wortlaut des Textes berufen, aus dem eindeutig hervorgeht, dass sich Paulus auch als Christ seiner leiblichen Existenz nach unter die Sünde verkauft wusste. Denn am Schluss des 7. Römerbriefkapitels steht das Wort, dem man die Gegenwartsbedeutung nun einmal nicht absprechen kann: "Ich, derselbe Mensch diene mit der Vernunft dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde" (Römer 7, 25). Der scheinbar nicht zu lösende Widerspruch löst sich von selbst, wenn man erkennt, dass Paulus auf Grund seiner seelischen Konstitution im Widerspruch mit sich selber leben musste und daher auch zu widersprechenden Aussagen über sich selber kommen musste. In dem Gefühl einer engen Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn konnte ihm die leibliche Existenz schon gewichtslos werden, zumal ihm die Verwandlung der sündigen Leiblichkeit in den Herrlichkeitsleib ja nur noch eine Frage der Zeit war (siehe Seite 65). In der Anspannung eines fanatischen Verkündigungswillens, die ihm das Leiden mit Christus ermöglichte, mag es ihm gelungen sein, die triebhaften Bedürfnisse seiner Leiblichkeit zeitweise zurückzudrängen. So konnte er dann in einem Gefühl der Vollkommenheit leben. In der Person des Paulus aber bestätigt sich die psychoanalytische Erfahrung, dass starke Verdrängungen, die ein anspruchsvolles Ich missliebigen Triebregungen gegenüber durchzusetzen vermag, mit Sicherheit wieder durchbrechen und nun selbst ihren Unterdrücker versklaven. Die verzweifelte Abwehr des sittlichen Bewusstseins, das sich beharrlich weigert, diese Kräfte anzuerkennen, hat dann zur Folge, dass in einem Menschen zwei Personen ihre Wirksamkeit entfalten können, die sich sogar sprachlichen Ausdruck zu verschaffen wissen. So kann Paulus aus seiner idealen Existenz heraus behaupten, er sei nur deshalb nicht nach Korinth gekommen, um den Korinthern ein Zorngericht zu ersparen, das er sonst in der Kraft Christi hätte vollstrecken müssen. Dieser Behauptung aber folgt wie selbstverständlich das Eingeständnis seiner Angst vor enttäuschenden Erfahrungen, die sein persönliches Erscheinen in Korinth möglicherweise nach sich ziehen konnten. In seiner idealen Existenz weiß er, dass ihm nur an einer Empfehlung durch Christus gelegen ist, zugleich aber meldet sich das andere Ich zu Worte, das sich über das Ausbleiben einer Empfehlung von Seiten der Korinther beschwert. Dem Lobpreis der Liebe stehen Äußerungen des Hasses gegenüber, der von Vernichtungswillen zeugt. Die Charakteranalyse zeigte bereits, dass Paulus vermutlich durch eine Triebperversion dazu gezwungen wurde, sich seiner leiblichen Existenz so weit als möglich zu entziehen. Vor allem der Geschlechtstrieb wurde dämonisiert und musste bekämpft, ausgelöscht werden, wenn man der vollkommenen Existenz in Christo teilhaftig werden wollte. Von dem Ergebnis dieses Kampfes berichtet dann das 7. Kapitel des Römerbriefes. Die verdrängten Triebe weisen ihre Existenzberechtigung nach, indem sie gegen den Willen des idealen Ichs in das Leben des Paulus einbrechen. Das Ideal-Ich muss diesen Vorgang wohl oder übel zur Kenntnis nehmen. "...ich weiß", bekennt er, "dass in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt" (Römer 7, 18). Er sieht sich in eine Wirklichkeit verstrickt, in der er gerade das Böse, das er nicht tun will, tun muss (Römer 7, 15). So zwingt ihn die Angst vor der Schuld, die eine Verwerfung durch Gott nach sich ziehen muss, sein eigentliches Ich von dieser Person in sich selber zurückzuziehen, um in Distanz von dieser unheimlichen Person sagen zu können: "Schließlich bin ich es ja selber gar nicht, der das Böse tut, sondern die in mir wohnende Sünde" (Römer 7, 17). Für Luther musste es eine Selbstverständlichkeit sein, dass Paulus sich als Christ zur Sündhaftigkeit seines geschöpflichen Seins bekannte. In dem paulinischen Bekenntnis von Römer 7 schien sich die eigene Erfahrung zu bestätigen, dass der Mensch seinem Wesen nach zu einem Handeln in Übereinstimmung mit Gottes Willen unfähig blieb und daher auch ein göttliches Verdammungsurteil vollauf verdiente. Es ist sicher kein Zufall, dass Luther seine reformatorischen Erkenntnisse über dem Studium der paulinischen Theologie gewann. Denn bei aller Verschiedenheit ihres Charakters und Lebensweges waren sie in einem Punkt des psychischen Bereiches eng miteinander verbunden. Es ist schon möglich, dass Luther diese schicksalsmäßige Verbundenheit intuitiv gespürt hat. Beide litten unter schweren Schuldgefühlen, die sie häufig an den Rand der Verzweiflung brachten und große Ängste auslösten. Es mag sein, dass Luther aus dieser Verbundenheit heraus die Verkündigung des Paulus von der Gerechtsprechung des Menschen allein durch die Gnade Gottes als eine befreiende Offenbarung göttlichen Willens erleben konnte. An diesem Punkt der Untersuchung zeigt sich nun aber ein Knoten, der mit Mitteln rationaler Überlegung nicht aufgelöst werden kann. Trotz scheinbarer Übereinstimmung zwischen Paulus und Luther kann das Gnadenerlebnis Luthers mit dem des Paulus überhaupt nicht zur Deckung gebracht werden. Luther sah sich zwar genauso wie Paulus genötigt, starke seelische Regungen aus dem Bewusstsein herauszudrängen, da sie seinem Glauben nach den Zorn Gottes herausforderten und somit sein Leben für Zeit und Ewigkeit bedrohten. Aber diese Verdrängungsarbeit gelang Luther nur unvollkommen. Denn die Angst vor dem drohenden Gericht Gottes hat Luther niemals überwunden. Wenn er in seinen immer wiederkehrenden Gerichtsängsten in der Schmähung des Papstes Erleichterung fand, dann lässt sich unschwer erkennen, wem diese Schmähungen letzten Endes galten (siehe Seite 102). Luther wusste um die gefährlichen Kräfte, die in seinem Leben und so auch in seinem Werk zur Auswirkung kamen. Er pflegte sich zwar zu zürnen, "weil er so viel Unreinigkeit in sich finde", aber er konnte diese Seite seines Wesens nicht wie einen Fremdkörper abstoßen, sondern fügte sie seiner vor Gott verantwortlichen Person ein. Über das Wort des Paulus von der Gerechtmachung des Sünders allein durch den Glauben (Römer 3, 28) wurde ihm die Gewissheit der vergebenden Liebe Gottes im Glauben an Christus zuteil. Nach der Auffassung des Paulus aber geht es im Sterben Jesu gar nicht um die Offenbarung einer Vergebungsbereitschaft Gottes. Paulus sieht zwar, genauso wie Luther, im Kreuzestod Jesu das entscheidende Heilsereignis. Aber das Heil wird ihm nicht in der Vergebung, sondern in einer nunmehr möglichen Befreiung von der Gesetzesknechtschaft angeboten. In den Augen des Paulus ist die Hinrichtung Jesu nur ein juristischer Akt, durch den die Engelwesen entmachtet werden. Sie galten nach spätjüdischer Auffassung als die Wahrer und Sachwalter des Gesetzes (siehe auch Seite 71) nach dem jedermann, der gehängt wurde, dem Fluch verfallen musste (5. Mose 21, 23). Nun wurden aber nach der Meinung des Paulus die Engelmächte überlistet, indem sie sich verführen ließen, Jesus zu kreuzigen. Da jedoch der Sohn Gottes in seiner Sündlosigkeit gar nicht dem Fluch verfallen konnte, musste an ihm die Kraft des Gesetzes unwirksam werden. Sie konnte nun auch über die Menschen, die sich in den Lebensbereich des auferstandenen Christus begaben, keine Gewalt mehr haben (Galater 3, 13). Die Engelmächte, die Paulus, gebunden an spätjüdische Vorstellungen, als dämonische "Herrscher dieser Welt" ansieht, haben Jesus in seiner göttlichen Wesenheit überhaupt nicht erkannt, denn "sonst hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt" (1. Korinther 2, 8). Die wesentlichen Unterschiede in der Glaubensauffassung bei Paulus und Luther werden nun deutlich erkennbar. Nach der Auffassung des Paulus erwies Gott seine Liebe dem verlorenen Menschen gegenüber in dem Anerbieten einer Teilhabe an der erhöhten Existenz seines gekreuzigten Sohnes. Nur ein ständiges Leiden mit Christus und fortschreitender Abbau aller irdischen Bindungen bewirken ein allmähliches Hineinwachsen in die neue Seinsweise. Der Glaube an eine persönliche Offenbarung Christi (Galater I, 11f.) ermöglicht es ihm, das urkirchliche Zeugnis auszuscheiden, soweit es sich nicht mit seiner Glaubensüberzeugung in Einklang bringen lässt. Das Heilsereignis von Kreuz und Auferstehung hat für ihn nur Gewicht, soweit es ihm eine Auflösung der kreatürlichen Bindungen und ein Hineinwachsen in die neue Existenz ermöglicht. Die Vorstellung einer Sündenvergebung durch Gott aber musste bei dieser Struktur seines Glaubens außerhalb seiner Erfahrungsmöglichkeit bleiben. Luther dagegen erlebte als den Kern der evangelischen Botschaft die Offenbarung der Vergebungsbereitschaft Gottes und meinte bei dieser Glaubenserkenntnis, sich auf Paulus berufen zu können. Dabei ahnte er nicht, dass nach der Vorstellung des Paulus mit dem Sein in Christus schon die messianische Zeit angebrochen war, in der die Gesetze der alten Weltordnung und somit auch das mosaische Gesetz für den Glaubenden keine Gültigkeit mehr hatten. Die Gerechtmachung des Menschen aus Glauben ohne des Gesetzes Werke war also für Paulus nichts weiter als eine selbstverständliche Folge seiner neuen Existenz in Christus. Das Gewicht dieser Vorstellung, die als Schlüssel zur Glaubenswelt des Paulus angesehen werden kann, hat Luther überhaupt nicht gespürt. Deutlich wird das in seiner Einstellung zum Leiden, das dem Christen in dieser Welt von Gott zugemutet bzw. auferlegt wird. Paulus sah in seinem für alle Christen beispielhaften Leiden immer nur ein Leiden mit Christus, durch das er seinem Herrn zunehmend gleichgestaltet wurde . In den Augen Luthers aber ist das Leiden eine Sündenstrafe, die Gott über Gläubige und Ungläubige verhängt: "Aber dieser Unterschied ist zwischen dem Leiden der Frommen und der Bösen, dass die Frommen und Gläubigen ihre Sünden erkennen; darum leiden sie auch alle Strafe mit Geduld, und sind Gottes Gericht unterworfen, ohn alles Widersprechen: Darum werden sie auch nur leiblich und zeitlich allhier gestraft, und ihre Pein und Leiden hat ein Ende." Wie fremd Luther der Gedanke war, eine Gemeinschaft mit Christus im Leiden zu verwirklichen, zeigt eine Predigtäußerung, die auch der Kirchenpostille entnommen ist: "Nicht, dass du gedenkest, dein Leiden und Kreuz mache dich selig, wenn du es geduldig und fröhlich tragest. Beileibe nicht, wie etlich närrisch und verführerisch meinen; sondern gedenke also, dass du an dem Kreuz und Leiden Christi ein Exempel habest, wie er, der doch unschuldig war, geduldig dazu gewesen ist, du auch also geduldig seist und dein Kreuz fröhlich tragest. Denn gleichwie uns unsere Werke nicht selig machen, also macht uns auch unser Kreuz noch Leiden nicht selig: Christus allein ist unsere Seligkeit, der hat es mit seinem Sterben und Kreuz ausgerichtet." Diese Äußerungen zeigen die Unfähigkeit Luthers, die paulinische Rechtfertigungslehre in ihrer Dynamik zu verstehen. Aus seinem ungespaltenen Persönlichkeitsbewusstsein heraus musste es ihm "närrisch und verführerisch" erscheinen, den Leidenswillen als Ausdruck ursprünglicher Glaubenskraft hinzustellen. Für Paulus aber wäre die Vorstellung einer Gerechtmachung des Menschen aus Glauben ohne das Erlebnis intensiven Leidens mit Christus völlig wertlos gewesen, da ihm dann der Antrieb aktiver Bemühung um vollkommene Heiligung genommen worden wäre. Er hätte es hinwiederum für närrisch und verführerisch gehalten, wenn man dem Glauben unter diesen Voraussetzungen noch irgendwelche Kraft zugetraut hätte. In der Tat hat Luther mit seiner vermeintlichen Neuentdeckung der paulinischen Rechtfertigungslehre als Mitte des Evangeliums den christlichen Glauben in seiner Struktur so verändert, dass nur noch in geringem Maße gestaltende Kraft von ihm ausgehen konnte. Zeit seines Lebens hat Luther die Schwäche evangelischer Glaubenshaltung nicht zu sehen vermocht. Denn in ihm selbst wurden ja beachtliche Kräfte freigesetzt, nachdem es ihm gelungen war, sich von der römischen Kirche zu lösen. Der Glaube an die Rechtfertigung, wie er sie bei Paulus vorzufinden meinte, war vermutlich die Lebensrettung des von Ängsten heimgesuchten Mönches. So war ihm die liebende Zuwendung Christi eine Wirklichkeit geworden, ohne die er der Verzweiflung verfallen wäre. Eine nahezu verführerische Bestätigung seines Weges bot sich ihm in der Begeisterung, mit der anfangs sein Kampf gegen die römische Kirche von der Mehrheit des Volkes gutgeheißen wurde. So konnte er zunächst in der Hoffnung leben, dass die Kirche Jesu Christi zu neuem, geisterfülltem Leben erwachen würde, um ihrer nahen Vollendung am letzten Tage entgegenzugehen. Als dann die Begeisterung ein jähes Ende nahm, enthüllten sich zusehends die Kräfte, die in Wirklichkeit die Reformationsbewegung getragen hatten. Es waren Kräfte, die mit dem von Luther erhofften heiligen Geist wenig oder überhaupt nichts zu tun hatten und nur dazu dienen konnten, die Schwäche der evangelischen Glaubenshaltung ans Licht zu rücken. (aus:
http://www.oturn.net/gcg/IV.7.Paulus-und-Luther.html)
|