Die Geschichte von Paul


Paul war ein einfacher, ein gewissenhafter Mensch also. Er hatte das Glück, eine unbeschwerte Kindheit am Rande einer Kleinstadt erlebt zu haben. Das war nicht selbstverständlich, das kleinstädtische Milieu reichte bis zum Ortsrand. In der Mitte des Ortes begegnete er früh schon ganz anderen Kindern, die viel gepflegter als er aussahen und von Dingen erzählten, die Paul gar nicht kannte. Eigentlich wollte er sie auch gar nicht kennen, aber das gehöre sich nicht. Jedenfalls ermahnte ihn seine Mutter öfters und dass er keine Freunde finden werde in der Stadt, falls er sich nicht für diese Dinge interessiere. Sein Freund aus der Nachbarschaft interessierte sich auch nicht für diese Dinge, mit denen die Kinder in der Stadt so eifrig sich beschäftigten. Man musste die Dinge sich auch kaufen, bevor man sie tauschen konnte. Sein Vater weigerte sich, ihm solche Bilder zu kaufen, die er Schund nannte. Seine Mutter aber kaufte ihm immer wieder einmal heimlich ein Bild, so dass er jetzt mitmachen durfte beim Tauschen. Er tauschte Bilder von Stars, die er gar nicht kannte. Die Kinder kannten die Stars vom Fernsehen, aber den stellten seine Eltern selten an, also konnte er sie gar nicht kennen. Aber er lernte die Bedeutung von Stars über die Begeisterung der anderen Kinder kennen; das genügte ihm und bald hatte er eine Sammlung von Bildern, die von den anderen Kindern besonders bestaunt wurde, weil sie eine hervorragende Auswahl der besten Stars darstellten, was er selber gar nicht beurteilen konnte; das beurteilten die Kinder. Sein Vater war Tischler und arbeitete oft sehr lange in einer recht kleinen Werkstatt, in der er allein arbeitete. Zwei Räume und ein unbeheizter größerer Raum in einem Haus, das mehr einem Schuppen glich wäre da nicht dieses strohgedeckte Krüppelwalmdach darüber, das darauf hinwies, dass dieses Haus früher einmal für etwas anderes gebaut wurde als für eine Behausung seiner Werkzeuge. Sein Großvater sei damals in dieses Haus gezogen, das einmal ein Bauernhof war. An seinen Großvater kann Paul sich nicht erinnern, obwohl sie ihm ein Bild zeigten, auf dem er auf dem Schoß des Großvaters saß und der ihn wohl im Übermut auffallend übertrieben anlachte. Er soll drei Jahre alt gewesen sein als sein Großvater fortzog. Wohin und weshalb er fortzog wusste Paul nicht. Er hat auch nie nachgefragt. Er spürte, dass darüber nicht geredet werden sollte, also redete er auch nicht darüber. Paul hörte oft die Leute über seinen Vater reden. Nicht über ihn selber, sondern über seine Stühle, die er als einziger Tischler in der Stadt noch selber fertigte. Früher fertigte er noch mit anderen Tischlern der Stadt Schränke, Tische und Anrichten, aber das ist lange her und nie haben die Leute darüber geredet; sie redeten nur von den Stühlen. Schön sei es, dass es diese von Hand hergestellten Stühle bei all der Konkurrenz noch gäbe. Sein Vater sei ein perfekter Handwerker, jedenfalls hörte er das von den Leuten. Die anderen Kindern redeten nie über seinen Vater, die redeten über ihre Väter und darüber, dass ihre Väter etwas Besonderes wären. Ob sein Vater etwas Besonderes war wusste Paul nicht, deshalb redete er auch nie über seinen Vater. Über seine Mutter redete in der Stadt niemand. Wenn er etwas über sie erfuhr, dann war es immer nur im direkten Umkreis des Hauses und nahezu exakt begrenzt vom Staketenzaun, den sein Vater erst vor kurzer Zeit selber hergestellt hat und er ihm dabei helfen durfte. Deutlich unterschied sich dieser Zaun von den anderen Zäunen der Häuser ringsherum, denen man ansah, dass die Gartenzäune aus den Baumärkten besorgt und von Handwerkern aufgestellt waren, die Paul nie kannte. Die kamen mit allerhand Werbung beklebt in Arbeitskleidung. Die Zäune wurden aufgestellt und nicht hergestellt. Deshalb redete wohl auch keiner über diese Zäune. Über den Zaun seines Vaters wurde damals viel geredet. Selbst im Kindergarten wurde Paul auf diesen Zaun angesprochen und er war stolz darauf, dass er den anderen Kindern erzählen konnte, dass er bei der Herstellung des Zaunes viele Tage lang mithelfen durfte. Er hätte sogar Ohrenschützer tragen müssen als sein Vater die Staketen mit einer Maschine sägte. Sein Vater hätte gesagt, dass es viel zu laut wäre, um ohne Schutz zu arbeiten. Paul fand es nicht laut, aber er gehorchte. Die Ohrenschützer waren jetzt auch ein untrügliches Zeichen, dass er arbeitete. Das erzählte er den Kindern alles nicht freiwillig. Die Kindergärtnerin moderierte alles und fragte Dinge, an die sich Paul erst nach ihrer Frage erinnerte. Aber er spürte, dass seine Antworten wichtig waren und alle Kinder andächtig ihm zuhörten. An diesem Morgen im Kindergarten war er ein Star obwohl keiner sein Bild tauschte.

Später in der Schule gehorchte er auch. Heute erinnert er sich nur noch wenig an die Schule. Er war ein unauffälliger Schüler und hielt sich auch immer sehr zurück in der Schule. Er war immer froh,wenn er wieder raus aus der Schule und nach Hause konnte. Dort sah die Welt auch ganz anders aus. Ihr Haus lag an einem kleinen Bach über den eine alte Holzbrücke führte. Oft spielte er früher dort an der Brücke mit den Kindern. Mitten auf der Holzbrücke war die Grenze gewesen und Zoll müsse man jetzt bezahlen wenn man hinüber wolle. Er erinnerte sich noch genau an diese Spiele weil er mit den Kindern nicht oft spielen konnte; sie kamen nicht oft. Sie blieben in der Stadt und hatten immer Termine. Sie gingen in Musikschulen, hatten daneben sogar noch Musikunterricht oder betrieben Sport. Den mochte Paul überhaupt nicht. Immer waren andere schneller als er und konnten auch den Ball viel weiter werfen. Oft, wenn einmal eines der Kinder zu ihm kam, war er stolz, dass er viel gewandter und schneller über den Bach springen konnte als sie, die sich oftmals gar nicht trauten, über den Bach zu springen. Die fanden dann dieses Spiel doof und kamen auch nicht wieder. Die Meisten blieben ohnehin auch am Nachmittag in der Schule, die auch den ganzen Tag besucht werden musste. Er besuchte sie nicht den ganzen Tag. Sein Vater erreichte, dass er spätestens um 14 Uhr gehen durfte was eigentlich für ihn bereits viel zu viel Schule bedeutete, und oft sah er zum ersten Mal bereits gegen 12 Uhr auf die Uhr, die er vom Fenster aus auf dem Kirchturm von St. Maria gut sehen konnte. Er beobachtete anschließend die unendliche Trägheit der Zeiger. So wartete er und oft fühlte er diese Qual des Wartens, wenn draußen die Sonne die Uhr von St. Maria besonders hell erleuchtete. Ob in diesen zwei qualvollen Stunden noch etwas unterrichtet wurde hätte er nie sagen können; das interessierte ihn nicht mehr. Wenn die anderen Schüler in diesen letzten beiden Stunden aufgefordert wurden zusammenzuarbeiten, berücksichtigten sie ihn selten. Meistens mussten die Lehrer*innen dafür sorgen, dass man ihn in einer Gruppe noch aufnahm, die sie Arbeitsgruppen nannten, obwohl da gar keiner arbeitete; das konnte er beurteilen. Er hatte diese Ohrenschützer auf, die hier auch genutzt hätten weil in den Gruppenarbeiten es besonders laut im Klassenzimmer herging. Er fühlte sich immer etwas fremd in der Schule. Er war lieber draußen am Stadtrand wo er wohnte. Er wollte sowieso wie sein Vater Tischler werden; er brauche die Schule nicht. Davon war er überzeugt. Heute weiß er es: Er lernte erst, als seine staatliche Schule endlich vorbei war.

Manchmal erklärte sein Vater seinen Kunden die Besonderheiten des Stuhles, den sie bei ihm bestellt hatten. Der Stauferstuhl blieb Paul besonders im Gedächtnis, den wollte er einmal selber bauen. Sein Vater hatte ihn entworfen und erzählte ihm bereits früher von den Geschichten der Staufer, die angeblich auf seinem Stuhl schon gesessen hätten. Als er die Geschichte des Staufers Heinrich VI im Geschichtsunterricht hörte, störte ihn zum ersten Mal der Lärm der Schüler*innen. Er wusste, dass jetzt Ohrenschützer falsch wären; jetzt arbeitete er nicht, jetzt lernte er und musste wegen des Lärms konzentriert zuhören und zum ersten Mal hatte er jetzt den Eindruck, dass er allein zuhörte. Die Geschichte vom Kaiser Heinrich VI und von Richard Löwenherz erzählte er damals daheim sofort seinem Vater, der nur den Richard Löwenherz kannte und von einem Heinrich wusste, der nach Canossa gegangen wäre. Davon aber hatte Pauls Lehrerin in der Schule nichts erzählt. Die Lehrerin erwähnte gar kein Canossa, da war er sich sicher. Denn er erinnerte sich sehr gut an Orte und Namen; an eine Eleonore von Aquitanien und dann an die Enkelin von ihr, die auf dem Bild, das ihnen die Lehrerin zeigte, auf einem Stuhl saß. Den konnte Paul aber wegen des großen Gewands dieser Blanca von Castilien nicht richtig erkennen und sowieso hatte der Stuhl ganz andere Lehnen, die geschwungen waren und nicht gerade wie die Lehnen des Stauferstuhls. Aquitanien und Castilien, von diesen Ländern hatte er noch nie gehört und die Lehrerin erzählte nicht wo diese Länder lagen. In Erdkunde hatte er eigentlich nie aufgepasst. Deshalb suchte er sie später zuhause im Weltatlas seines Vaters. In der Schule wollte er nicht fragen, weil die Anderen das sicher wussten, obwohl die in Erdkunde auch nicht aufpassten. Er hatte aber auch in Geschichte nie aufgepasst und vielleicht hat die Lehrerin das früher schon einmal erzählt. Aber jetzt, wo es um den Stauferstuhl ging, passte er auf; an alles konnte er sich erinnern, selbst an Namen und alles nur wegen diesem Stauferstuhl. Das Land Aquitanien gab es nicht im großen Atlas seines Vaters und das Land Castilien auch nicht. Weder sein Vater noch seine Mutter hatten je von diesen Ländern gehört und auch sie fanden sie nicht.


(Die Geschichte wird jetzt immer wenn Zeit dafür ist fortgeschrieben. Der Begriff Eigentum kann nicht definitorisch erfahrbar gemacht werden; das hätten sie zwar gern, die Advokaten, die überhaupt gerne das Leben definieren möchten, weil sie selber das Leben längst nicht mehr leben: Sie verwalten es und richten sich in ihm bequem ein; sie gehorchen.

Auf der anderen Seite soll die Torheit des Omnia sunt communia, dass Allen alles gehöre, erfahrbar gemacht werden.

Für diese beiden Aufgaben allein sollte diese Geschichte geschrieben werden. Nach und nach und sie wird dauern bis sie zu Ende geschrieben ist, wie das Leben von Paul dauert.


Jetzt ist es zu spät. Bereits gut zwei Jahre später war wissenschaftlich für die Neugierigen unter den Menschen klar, dass der Anstieg der klimaschädlichen Gase nicht mehr zu stoppen ist. Sie haben eine Kaffeekasse verbindlich eingerichtet und werden am Vorabend ihres Todes vielleicht wenigstens einmal wahrhaft zusammensitzen und Kaffee trinken. Paul und der Autor von endederrevolutionen.de werden ihre Kaffeetafel meiden und an der Ecke stehen und nur schauen, wer sich jetzt noch getraut mit all diesen verlogenen Politiker Kaffee zu trinken. Er trinkt den Wein und Paul das Wasser, das ihm immer heilig war und er allein im Gedenken an seinen Vater nie davon abließ, immer nur reines Wasser zu trinken: Dank sei Dir, Gott dem Herrn.
Diejenigen, die dann an diesem Tisch sitzen, auf gepolsterten Stühlen, die Pauls Vater nie fertigen würde, die wissen dann, dass sie zu spät sind. Ob sie diese Strafe verdient haben, weiß auch Paul nicht, der dem Autor von endederrevolutionen.de dankt, dass er, wie dieser auch, eigentlich nie erzogen wurde. Er lebte im Namen des "einzig Herr, einzig König!", den er nie kennengelernt hat aber irgendwie immer fest an ihn glaubte: Nie hätte er ihm gehorcht, weil er wusste, dass auch er ihn liebt und Liebende sollten niemals auf etwas hören, was nicht aus Liebe allein gesagt wird. Bis dass der Tod sie scheidet. Diese Antithese war beiden, Paul und dem Autor von endederrevolutionen schon immer die Wichtigste und danach kam das Gebot, immer friedfertig zu bleiben und wiederum, bis dass der Tod sie scheidet. Beide liebten ihre Feinde und beide liebten sich. Er liebt seinen einzigen Vater und kann nichts gegen diese Liebe tun.


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